
Von Eve L. Castille
// English Version Below //
Deutschlands erneuerbare Energiewende wird nicht ohne bedeutsame Fortschritte auf lokaler Ebene erzielt werden. Während viele Kommunen gerne aktiv handeln wollen, werden Sie jedoch oft von etwas zurückgehalten, das Sozialwissenschaftler*innen soziale Dilemmata nennen. Dies sind Situationen, in denen das gemeinsame Handeln oft riskant, kostenintensiv, oder unfair erscheint, auch wenn dies einen Vorteil für alle bringen würde.
Praxisanwendung – Was bedeutet das für Sie?
Wenn Sie in der öffentlichen Verwaltung oder im Bereich der Versorgungsplanung tätig sind, verweist diese Studie auf zwei wichtige Erkenntnisse:
- Warten Sie nicht darauf, dass andere die Führung übernehmen. Wenn alle zögern, kommt kein Wandel zu Stande. Führungsstärke und Zusammenarbeit zahlen sich aus -insbesondere, wenn durch integrative Prozesse Vertrauen aufgebaut wird.
- Gestalten Sie Zusammenarbeit. Erfolg hängt oft nicht von den Fähigkeiten eines einzelnen Akteurs ab, sondern davon, wie gut mehrere Akteure zusammenarbeiten. Dazu gehören Regierungen, Versorgungsunternehmen, Entwickler und Gemeindegruppen.
Instrumente wie gemeinsame Planungsrahmen, Gewinnbeteiligungsmodelle und strukturierte partizipative Prozesse sind nicht nur „nice to have“ – sie sind entscheidend für die Überwindung struktureller sozialer Dilemmata.
Was wissen wir also nun über diese Dilemmata aus der bestehenden Forschung?
Um dies herauszufinden, führten wir eine systematische, KI-gestützte Literaturrecherche durch. Das Ziel war simpel: die weltweite Fachliteratur unter Peer-Review nach bestehenden Fallstudien zu durchsuchen – um dann zu verstehen, wo und wie diese adressiert wurden. Die Suchkriterien der Literaturrecherche waren englischsprachige, begutachtete Veröffentlichungen und Berichte, auf Basis ihrer Zusammenfassungen. Unser Ansatz war darauf ausgelegt, ein Bild des allgemeinen Stands der Forschung zu erhalten und nicht einen vollständigen Überblick.
Dieser Artikel fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Spoiler: Windprojekte dominieren die Debatte, Standortprobleme sind am weitesten untersucht, und soziale Dilemmata in Zusammenhang mit Wärmenetzen sowie Finanzierungsherausforderungen auf der kommunalen Ebene sind noch wenig erforscht.
Was wir gesucht haben – und wie
Wir untersuchten mehrere Energiesektoren – Windkraft, Solarenergie, Bioenergie, Netzinfrastruktur und Fernwärme. Die zentrale Frage war: Wo haben Forscherinnen und Forscher bereits soziale Dilemmata identifiziert und welche Arten sind am häufigsten?
Über Scopus, einer großen akademischen Datenbank, wurden englisch-sprachige, seit 2010 veröffentlichte, Artikel unter Peer-Review herausgefiltert. Um relevante Studien festzuhalten, haben wir folgende Stichwörter verwendet:
- Energietechnologien (z.B. „Wind“, „Solar“, „Fernwärme“)
- Soziale Dilemmata und kollektives Handeln (z.B. „Trittbrettfahrerproblem“), „NIMBY (engl. not-in-my-backyard)“, „Koordinationsversagen“)
- Lokale Verwaltung (z.B. „Gemeinde“, „Stadt“)
Das Ergebnis? 901 Artikel – viel zu viele, um sie manuell zu lesen. Hier kam die Anwendung von KI ins Spiel.
KI-gestütztes Screening
Um die relevantesten Studien schnell zu identifizieren, verwendeten wir ein Python-Tool namens ASReview, das aktives Lernen einsetzt, um Literaturrecherchen zu straffen. Sobald wir die Abstracts manuell nach ihrer Relevanz kodiert hatten, lernte der Algorithmus, die vielversprechendsten zu priorisieren.
Nach der Sichtung von 319 Abstracts fanden wir 103 relevante Artikel, die sich mit sozialen Dilemmata auf lokaler Ebene befassten. Diese konzentrierten sich auf reale Koordinationsprobleme – nicht nur auf Einstellungen oder Wahrnehmungen – und umfassten verschiedene Energiesektoren.
Was fand die Forschung?
Um herauszufinden, welche Dilemmata am häufigsten auftraten, wurden die Artikel mithilfe von KI-Tools und manueller Kodierung kategorisiert. Hier sind unsere Ergebnisse:
1. Standortdilemmata dominieren
Das am häufigsten diskutierte soziale Dilemma war das Standortdilemma – bei dem lokale Untergruppen die Kosten eines Projekts im Bereich erneuerbare Energien tragen (z.B. Lärm, Ästhetik, Flächenverlust), während andere von Vorteilen profitieren. Von den 30 Artikeln, die wir eingehend kodiert haben:
- beschäftigten sich 22 mit dem Standortdilemma
- betrafen meist Windenergie, gefolgt von Solarenergie, Biogas und Stromnetzen
Diese Dilemmata stehen oft im Zusammenhang mit Widerstand seitens der Bevölkerung, insbesondere wenn diese sich von der Planung oder der Entscheidungsfindung ausgeschlossen fühlt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn es eine hohe Konzentration von Windprojekten an Standorten mit besonders geeigneten Bedingungen gibt. Hier sind Verfahrensgerechtigkeit, Fairness und Ausgleichsmechanismen von entscheidender Bedeutung.
2. Trittbrettfahrerprobleme sind selten – aber real
Nur drei Artikel beschreiben eindeutig ein Trittbrettfahrerproblem, bei dem Kommunen von den Investitionen anderer in erneuerbare Energien profitieren, ohne selbst die Kosten zu tragen. Beispielsweise tragen Bewohner*innen einer Solar-Gemeinde nicht zur Wartung des Solar-Mikronetzes bei, da sie erwarten, dass dies jemand anderes übernimmt.
Dieses Problem war häufig in Fällen gemeinsamer Infrastruktur oder regionaler Ziele zu finden, bei denen sich keine Stadt/Gemeinde für die Initiierung von Investitionen verantwortlich fühlt – insbesondere, wenn kein Druck von außen besteht.
3. Assurance-Spiele treten in kooperativen Umständen auf
Wir fanden fünf Fälle von Assurance-Spielen – bei denen größere oder riskante Investitionen nur dann sinnvoll sind, wenn sich mehrere Akteure gemeinsam dazu verpflichten. Dies ist besonders üblich bei:
- gemeinsamen Windprojekten
- gemeinschaftlich betriebenen Bionergieanlagen
- Dachsolaranlagen, die Zugang zu industriellen und gewerblichen Gebäuden erfordern
- Wechsel bei Wärmenetzen
Diese Situationen unterstreichen die Bedeutung von Vertrauen, Koordination und Pilotprojekten, um Entscheidungen risikofrei zu gestalten. Beispielsweise kann ein kostspieliges Biomasse-Energieprojekt möglicherweise nicht realisiert werden, wenn kein Vertrauen in die umliegende Industrie besteht, den Brennstoff für die Anlage zu liefern.
4. Nutzer-Investor-Dilemma fehlt überaschenderweise
Auffallend ist, dass in keiner der Abstracts eindeutig ein Nutzer-Investor-Dilemma in Zusammenhang mit lokalen Energiewendeprojekten identifiziert werden konnte – bei dem eine Partei investiert, aber eine andere davon profitiert. Ein gewöhnliches Beispiel aus dem Kontext der Gebäudesanierung hierfür ist das Mieter-Vermieter-Dilemma, bei dem Verbesserungen an einer Wohnung dem Mieter zugutekommen, aber vom Vermieter bezahlt werden. Wir vermuten, dass dies entweder auf eine fehlende Abdeckung von Schlüsselwörtern (möglicherweise haben wir relevante Studien übersehen) oder einer Lücke in der Fachliteratur zurückzuführen ist. Unserer Erfahrung nach wird dies beispielsweise im Mietrecht oder im Zusammenhang zu Finanzierungsmodellen diskutiert. Unsere Recherche konzentriert sich jedoch auf Herausforderungen bei Koordination und Zusammenarbeit.
Dies ist überraschend, wenn man bedenkt, wie oft Versorgungsunternehmen oder Kommunen in Infrastruktur investieren, von der in erster Linie andere profitieren – beispielsweise bei der Integration von Photovoltaikanlagen in Haushalten oder gemeinsamen Wärmenetzen.
Jenseits der Kategorisierung: Welche Faktoren formen Ergebnisse?
Zur Vertiefung haben wir ein Sprachmodell verwendet, um Ursache- und Wirkungsmuster aus den Abstracts zu extrahieren. Nach der Bereinigung und Gruppierung der Daten konnten wir über 70 Kontextfaktoren identifiziert, die den Erfolg oder Widerstand bei der Energiewende beeinflussen. Hier sind einige Highlights:
- Bewusstsein & Vorteile: Medienbeiträge, wahrgenommene wirtschaftliche Vorteile, und Nachwuchsförderung trugen dazu bei, lokale Akzeptanz aufzubauen.
- Eigenschaften der Gemeinschaft: Hohe zivile Beteiligung, Bildung, Kohäsion, und prosoziale Werte fördern die Zusammenarbeit.
- Kosten & Risiken: Ästhetische Bedenken, Netzkompatibilität, Bedrohungen der biologischen Vielfalt und Kapitalrendite beeinflussten allesamt die Haltung.
- Governance & Vertrauen: Eine gemeinsame Vision, öffentliche Beteiligung, und Vertrauen in Versorgungsunternehmen und Entwickler waren der entscheidende Schlüssel zum Erfolg.
- Verfahrensgerechtigkeit: Fairness, Transparenz und Inklusion in Planungsprozessen spielten eine entscheidende Rolle – insbesondere in Standortkonflikten.
Diese Erkenntnisse bestätigen, was Praktiker bereits vermuten: technische Machbarkeit allein genügt nicht. Soziale Akzeptanz, Verfahrensgerechtigkeit, und kollaborative Governance sind gleichermaßen wichtig.
Reflektionen und Lücken
Unsere Untersuchung ergab einige wichtige Erkenntnisse für Forscherinnen und Forscher sowie politische Entscheidungsträgerinnen und -träger:
- Standortdilemma werden ausführlich untersucht – aber oft als „Akzeptanzproblem“ und nicht als Probleme kollektiven Handelns.
- Wärme- und Nutzer-Investor-Dilemmata bleiben wenig erforscht – trotz ihrer praktischen Relevanz für lokale Infrastrukturplanung.
- Nur sehr wenige Studien benutzen explizit den Begriff „soziales Dilemma“, auch wenn diese beschrieben werden. Dies kann den Wissensaustausch zwischen Sektoren erschweren.
- Pilotprojekte – die die Machbarkeit und gemeinsamen Vorteilen demonstrieren – erweisen sich als wirksame Instrumente zur Überwindung von Standortkonflikten.
// English Version //
What the Research Says: Social Dilemmas in the Local Energy Transition
By Eve L. Castille
Germany’s energy transition won’t succeed without meaningful progress at the local level. But while many communities want to act, they’re often held back by what social scientists call social dilemmas—situations where acting alone seems risky, costly, or unfair, even when everyone would benefit from acting together.
What This Means for You
If you’re a public administrator or utility planner, this research points to two key takeaways:
- Don’t wait for others to lead. If everyone defers action, the transition stalls. Leadership and cooperation pay off—especially when trust is built through inclusive processes.
- Design for collaboration. Success often depends not on a single actor’s capacity, but on how well multiple actors coordinate. That includes governments, utilities, developers, and community groups.
Tools like joint planning frameworks, benefit-sharing schemes, and structured participatory processes aren’t just “nice to have”—they’re critical for overcoming structural social dilemmas.
So, what do we actually know about these dilemmas from existing research?
To find out, we conducted a systematic, AI-assisted literature review. The goal was simple: scan the global peer-reviewed literature for real-world cases where social dilemmas arise in renewable energy transitions—then understand where and how they’re addressed. The literature review was limited to English-language, peer-reviewed literature and reports on what we could learn from the abstracts. Our approach was designed to paint a picture of the research; it is not exhaustive.
This article summarizes our key insights. Spoiler: wind projects dominate the debate, siting issues are the most studied, and heat systems and financing challenges are still underexplored.
What We Looked For—and How
We searched across multiple energy sectors—wind, solar, bioenergy, grid infrastructure, and district heating. The central question was: Where have researchers identified social dilemmas, and which types are most common?
Using Scopus, a major academic database, we filtered for English-language peer-reviewed articles published since 2010. To capture relevant studies, we included keywords covering:
- Energy technologies (e.g. “wind”, “solar”, “district heating”)
- Social dilemmas and collective action (e.g. “free rider problem”, “NIMBY”, “coordination failure”)
- Local governance (e.g. “municipality”, “town”, “city”)
The result? 901 articles—far too many to read manually. That’s where AI came in.
AI-Assisted Screening
To quickly identify the most relevant studies, we used a Python tool called ASReview, which applies active learning to streamline literature reviews. As we manually coded abstracts for relevance, the algorithm learned to prioritize the most promising ones.
After reviewing 319 abstracts, we found 103 relevant articles dealing with social dilemmas at the local level. These focused on real-world coordination problems—not just attitudes or perceptions—and spanned multiple energy sectors.
What Did the Research Say?
We categorized the articles using AI tools and manual coding to identify which dilemmas appeared most often. Here’s what we found:
1. Siting Dilemmas Dominate
The most commonly discussed social dilemma was the siting dilemma—where local subgroups bear the costs of a renewable project (e.g. noise, aesthetics, land loss), while benefits go to others. Out of the 30 articles we deeply coded:
- 22 discussed siting dilemmas
- Mostly tied to wind energy, followed by solar, biogas, and grid
These dilemmas are often linked to community resistance, especially when people feel left out of planning or decision-making. For example, when there is a high concentration of wind projects where the conditions are favorable. Procedural justice, fairness, and compensation mechanisms are crucial here.
2. Free Rider Problems Are Rare—But Real
Only three articles clearly described a free rider problem, where municipalities benefit from others’ investments in renewables while avoiding costs themselves. For example, solar community residents do not contribute to solar microgrid maintenance expecting someone else to do it.
These were often found in cases of shared infrastructure or regional targets, where no individual town feels responsible for initiating investment—especially in the absence of external pressure.
3. Assurance Games Show Up in Collaborative Settings
We found five cases of assurance games—where large or risky investments only make sense if multiple actors commit together. This is especially common in:
- Joint wind projects
- Community-led bioenergy
- Rooftop solar requiring industrial building access
- Heat grid transitions
These situations highlight the importance of trust, coordination, and trial projects to de-risk decisions. For example, a costly biomass energy project may not be built without trust in nearby industry to provide fuel for the plant.
4. User-Investor Dilemma Is Surprisingly Absent
Strikingly, none of the abstracts clearly identified a user-investor dilemma—where one party invests, but another benefits. A common example of this is the tenant-landlord dilemma, where improvements to the apartment benefit the tenant but are paid for by the landlord. We suspect this might reflect a gap in keyword coverage (we may have missed relevant studies) or a blind spot in the academic literature. For example, in our experience this debated in tenancy law or related to financing models. Our search focuses on coordination and collaboration challenges.
This is surprising, given how often utilities or municipalities invest in infrastructure that primarily benefits others—like household PV integration or shared heating networks.
Beyond Categorization: What Factors Shape Outcomes?
To go deeper, we used a language model to extract cause-and-effect patterns from the abstracts. After cleaning and grouping the data, we identified over 70 contextual factors that influence success or resistance in renewable energy transitions. Some highlights:
- Awareness & Benefits: Media coverage, perceived economic benefits, and youth training helped build local support.
- Community Attributes: High civic engagement, education, cohesion, and prosocial values foster cooperation.
- Costs & Risks: Aesthetic concerns, grid compatibility, biodiversity threats, and return on investment all shaped attitudes.
- Governance & Trust: Shared vision, public participation, and trust in utilities or developers were key to success.
- Procedural Justice: Fairness, transparency, and inclusion in planning processes played a decisive role—especially in siting conflicts.
These findings confirm what practitioners already sense: technical feasibility is not enough. Social acceptance, procedural fairness, and collaborative governance are equally vital.
Reflections and Gaps
Our review surfaced a few important lessons for researchers and policymakers:
- Siting dilemmas are well-covered—but often treated as „acceptance“ issues rather than collective action problems.
- Heat and user-investor dilemmas are underexplored—despite their practical relevance in local infrastructure planning.
- Very few studies explicitly use the term “social dilemma,” even when describing them. This may hamper knowledge sharing across sectors.
- Trial projects—demonstrating feasibility and shared benefits—emerge as powerful tools to overcome both siting and assurance dilemmas.
